Regiestatement

von Nikolaus Geyrhalter

„2003 erzählt man uns von einer Textilfabrik im Waldviertel, in der angeblich die Zeit stehengeblieben ist. Der Besitzer, weit über 70, soll hier mit musealen Maschinen und den letzten der ehemals 300 Mitarbeiter traditionelle Stoffsorten produzieren, die der Markt immer weniger abnimmt.
Bald darauf betreten wir die Fabrik das erste Mal, noch ohne zu wissen, wohin uns diese Reise führen wird. Es wird schnell klar, dass wir nicht mehr viel Zeit haben, bevor die Firma ihre Tore für immer schließen wird.
Die Menschen, die wir hier treffen, wollen wir jedenfalls noch eine Weile begleiten. Mehr als zehn Jahre sind es schließlich geworden, die zwischen Anfang und Ende dieses Filmes liegen.“
↓ Nikolaus Geyrhalter und Wolfgang Widerhofer im Gespräch mit Claus Philipp

Lebensläufe mit offenem Ausgang

von Claus Philipp

Ein Projekt. Ein Filmprojekt: Eine alte Textilfabrik im Waldviertel, dem Vernehmen nach noch traditionellen Produktionsmechanismen verpflichtet, Handwerk, das es bald nicht mehr geben wird. Daraus also die Idee, das alles noch zu dokumentieren. Es folgen Begegnungen und Aufzeichnungen mit 5, 6, 7 Menschen an ihrem Arbeitsplatz. Aber sehr schnell wird dieser Arbeitsplatz, wird eigentlich auch das Filmprojekt von einem beschleunigten Niedergang überrollt. Die Fabrik wird geschlossen. Die Filmemacher wollen aber noch drei, vier Jahre weiter beobachten, was das heißen könnte: Arbeitslosigkeit, Arbeit suchen, und was das anrichtet mit Menschen, in deren Landstrich Arbeitsplätze ein rares Gut sind. „Über die Jahre“, der neue Film von Nikolaus Geyrhalter, war von Anfang an ein unwägbares Projekt mit nicht vorhersehbaren Resultaten. Aus den drei, vier Jahren wurden zehn. Und jetzt kommt „Über die Jahre“ ins Kino, ein in jeder Hinsicht einzigartiges --- Meisterwerk.
„Man kollaboriert mit einer in jeder Hinsicht nicht vorhersehbaren, unbekannten Zukunft“: Das soll der US-amerikanische Regisseur Richard Linklater über sein Opus magnum „Boyhood“ gesagt haben. Über zehn Jahre lang hatte Linklater in regelmäßigen und weniger regelmäßigen Abständen das Aufwachsen und die „education sentimentale“ eines jungen Amerikaners verfolgt – „ein verrücktes Unternehmen“.
Dieser Verrücktheit und ihrer Ungeschütztheit (wer könnte zum Beispiel vorhersagen, dass er sich über einen derart langen Zeitraum auf technische Kontinuität oder ein kompaktes Ensemble von Protagonisten verlassen könnte?) – ihnen ist „Über die Jahre“ überaus nahe. Und das mit dem wesentlichen Unterschied, dass (anders als Linklater) Geyrhalter und sein Ko-Autor, der Schnittmeister Wolfgang Widerhofer sich nicht einmal auf ein „vor-geschriebenes“, „ab-gesichertes“ Netz von Fiktionen und Drehbuch-Volten berufen haben, die Kontinuität garantieren könnten.
Nein, jede neue Begegnung, jeder neue Dreh über diese 10 Jahre hinweg ergaben neue unvorhersehbare Wendungen, die, wie man so schön blöd gemeinhin sagt, „das Leben schreibt“. Manchmal sind sie „über die Jahre“ hinweg wie kleine heitere Beben, wenn etwa ein Mann zunehmend ungewöhnliche Hobbys offenbart: 1800 Lieder archivieren zum Beispiel. Manchmal sind sie wie kalte Schauer aus einer Vergangenheit, über die man lange nicht reden mochte: Ein Ehepaar erzählt über eine familiäre Katastrophe. Und manchmal erreichen sie eine fast schon groteske, apokalyptische Tonlage: Ein Mensch hängt sich in verregnetem Niemandsland in Altmetallcontainer, um mit ein paar gesammelten Aludosen das geringe Grundsalär aufbessern zu können.
In solchen Momenten denkt man dann: Wie soll das noch weiter gehen? Aber: Dass und wie es weitergeht, davon erzählt der Film. Oder richtiger: Die Verhältnisse, die sich vor Geyrhalters Bildern und in Widerhofers Montage immer weiter vorwärts bewegen, auf glückliche und weniger glückliche Momente zu, sie erzählen – quasi durch den Film hindurch – davon.
In einer an Bildern von Landleben – grausam, beklemmend, idyllisch – wie auch immer nicht gerade armen österreichischen Kunst und Kultur zum Beispiel ist „Über die Jahre“ ein unvergleichlicher Einzelfall. Und das liegt nicht zum geringsten Teil in seiner Orientierung an Lebens- und Arbeits- (und arbeitsloser) Zeit.
In Kindheitserinnerungen eines Franz Innerhofer, Gernot Wolfgruber oder Josef Winkler oder in den katastrophischen Suadas eines Thomas Bernhard ist es meist Erinnerung, die das Geschehen und damit auch seine Spannungsbögen strukturiert. Man weiß, was man erzählen und zeigen wollte. Geyrhalter und Widerhofer konnten sich auf solche Absicherungen - durch Erfahrung, Virtuosität, wie auch immer - nicht berufen. Lebensläufe mit offenem Ausgang bedingen einen offenen Zugang, eine offene Form.
Insofern ist „Über die Jahre“ vielleicht einem Lebens- und Reisejournal, einem Tagebuch am nächsten. Man schreibt sich durch die Tage fort, manchmal zieht man ein Fazit, nicht selten wird dieses Fazit durch Erkenntnisse, die man wenige Tage, Wochen, Monate später gewinnt, wieder über den Haufen geworfen. Es ist eine große Qualität des Films, dass er sich nicht nachträglich „klüger“ präsentiert, sich also auch nicht über die Menschen und Verhältnisse, die er vorfand, erhebt, geschweige denn Lebens-Weisheiten formuliert. Er begleitet und beobachtet, über die Jahre, und aus dem Detailreichtum dieser Beobachtung gewinnt er eine immense Kraft, emotionell wie intellektuell herausfordernd. „Über die Jahre“ ist, so Nikolaus Geyrhalter und Wolfgang Widerhofer, „ein Epos, aber ein feinziseliertes“.

„Über sieben Brücken musst Du gehen...“

Nikolaus Geyrhalter und Wolfgang Widerhofer im Gespräch mit Claus Philipp

Claus Philipp: Zehn Jahre Arbeit an so einem Projekt - was hat Ihnen das Vertrauen gegeben, dass die Protagonisten überhaupt dabei bleiben?
Nikolaus Geyrhalter: Von zehn Jahren war ursprünglich nicht die Rede. Wir dachten immer, wir werden drei, vier Jahre drehen, weil es mir wichtig war, diesen Prozess abzubilden: Wie Menschen über eine gewisse Zeitspanne hinweg Arbeit verlieren und wieder Arbeit suchen. Je mehr Zeit da vergeht, desto mehr „tut“ sich auch, klar. Dann hat die Sache aber eine Eigendynamik bekommen, Zeit hat keine große Rolle mehr gespielt. Wir hatten phasenweise auch nicht mehr so engen Kontakt mit den Protagonisten. Immer wieder war es durchaus aufwändig, manche von ihnen wieder zu suchen, sie zu überreden, sich wieder filmen zu lassen. Und ab dem Zeitpunkt, wo klar war, dass das ein wirkliches Langzeitprojekt wird, als die drei Jahre schon überschritten waren, war es natürlich unser Bestreben, das möglichst auszudehnen. Dass es jetzt nach zehn Jahren zu Ende ist, hat mit vielem zu tun: Die Fabrik wird jetzt wirklich einen neuen Eigentümer finden; wir mussten den Förderern gegenüber den Film endlich abrechnen. Und: Zehn Jahre waren einfach ein schöner Zeitpunkt, um dieses Gefäß zu schließen.
Claus Philipp: Wenn man von der Gestaltung dieses Gefäßes spricht: Wolfgang Widerhofer, ab wann haben Sie begonnen den Film zu schneiden?
Wolfgang Widerhofer: Wir waren ja relativ früh das erste Material am Schneidetisch, um zu sehen: Was kann das? Jedoch in der Zwischenzeit haben wir auch andere Filme gemacht. "Unser täglich Brot", "7915 KM", "Abendland“... Der Schnitt an dem, was der Film jetzt geworden ist, hat im Jänner 2014 intensiv begonnen. Über zwölf Monate hinweg habe ich mich dann mit dem Material auseinander gesetzt, im letzten Jahr haben wir dann noch das letzte Kapitel des Films gedreht und uns gefragt, was wollen wir jetzt noch einmal mit welchen Leuten ansprechen?
Claus Philipp: Wie haben sich denn Ihre Fragestellungen über diese zehn Jahre hinweg verändert?
Nikolaus Geyrhalter: Es gab keine Fragestellungen im eigentlichen Sinn. Es war bald klar, dass der Film ab dem Moment, wo es die Fabrik, die wir ja noch durchaus detailliert beschreiben konnten, nicht mehr gab, eigentlich dem folgen würde, was das Leben erzählt. Wie ein Baum, den man pflanzt und bei dem man keine Ahnung hat, in welche Richtung die Äste gehen werden - so hat sich dieser Film entwickelt. Ich habe mich beim Drehen auch darauf zurückgezogen, möglichst wenig einzugreifen, einfach abzuwarten, was in den einzelnen Biographien passiert. Zehn Jahre, auf sieben Protagonisten hochgerechnet, das sind 70 Lebensjahre, das ist ein ganzes Leben, da passiert ja einiges. Dies wiederum in einen Film zu gießen, Bilder zu finden, die dem gerecht werden, das hab’ ich als meine Aufgabe gesehen. Tatsache ist, dass diesen Film in erster Linie das Leben der Protagonisten geschrieben hat.
Wolfgang Widerhofer: Wir waren in einer Position des Reagierens auf das Leben der Protagonisten. Und ich finde es zentral, dass das in die Form des Films schließlich eingeflossen ist. Am Anfang war da wahnsinnig viel Material aus der Fabrik, und man sieht auch, dass dieses Fabrik-Material eine viel größere Position der Sicherheit vermittelt, alles ist stabil. Da ist ein kompakter Raum, ein geschlossenes Gebäude, man hat die Leute alle vor Ort. Die Kamera hat also zu Beginn eine souveränere Position, und dann kommt dieser Einschnitt, die Fabrik wird zugesperrt, plötzlich fängt alles an, sich zu bewegen. Plötzlich ist da die Handkamera, eine spielerische Dynamik kommt in den Film rein. Eine offenere Form, in alle Richtungen - wie mehrere Bäche, die zusammen und auseinander fließen. Mit allen Elementen des Zufalls.
Claus Philipp: Die Protagonisten des Films sind weitgehend nicht sehr beredt, um nicht zu sagen: maulfaul. Wenn zum Beispiel gleich am Anfang auf eine Ihrer ersten Fragen – „Beschreiben Sie mir einen Tag von Ihnen“ - eine Nichtbeschreibung folgt: Das ist erheiternd und frustrierend zugleich.
Nikolaus Geyrhalter: Ich fand es schön, dass die Auswahl der Protagonisten quasi per Zufallsgenerator passierte. Sie waren einfach zu dem Zeitpunkt, als wir in der Fabrik gedreht haben, noch da. Hätten wir sie gecastet aus einer großen Anzahl von Menschen, dann würde das jetzt viele Fragen aufwerfen wie: Warum habt ihr sie ausgewählt? Was soll das repräsentieren? Es ist für mich wunderbar, das so anzunehmen, und Leuten den Raum zu geben, den sie sonst nicht haben.
Wolfgang Widerhofer: Oft sind keine Antworten ja Ausdruck eines Charakters oder auch eines Widerstands gegen Fragen. Für mich war es beim Schneiden interessant zu sehen, wie Niki als Filmemacher selbst zu einer Person wird, die diesen Film vorantreibt. Da zeichnet der Film auch nochmal nach, wie es ist, einen Film zu machen. Manches Mal auch keine Antwort zu kriegen oder ein Interview stoppen zu müssen - von diesen oft unsicheren Momenten zu erzählen finde ich spannend.
Claus Philipp: Den kreativen Dialog zwischen Ihnen beiden, wie darf man sich den vorstellen?
Nikolaus Geyrhalter: Viele Arbeitsschritte haben sich zwischen uns über die Jahre hinweg schon so etabliert, dass vieles wie von selbst geht. Wolfgang ist für mich so etwas wie ein Korrektiv. Man sieht, wenn man dreht, andere Sachen, als wenn man schneidet. Und dass Wolfgang am Set nie dabei ist, ist ein großer Vorteil, er liest dann am Schneidetisch quasi nur noch das, was im Material wirklich drinnen ist.
Wolfgang Widerhofer: Niki hat es selbst einmal so beschrieben: Außendienst und Innendienst. Und so sehe ich das auch, wie eine Arbeit am Inneren des Films. Niki schaut sich ja das, was er gefilmt hat, nicht nochmal ganz an, sondern ich tue das und beginne aus diesem Material so etwas wie eine Substanz dessen zu schöpfen, was uns dieser Film über das Leben erzählen kann. Was ist da überall drinnen? Wie erzählt sich die Geschichte in dieser offenen Form am besten? Was ist der ureigene Grund dieses Films?
Es ist für den Film diesmal sehr wichtig, dass Niki mit seinen Fragen im Film derart präsent ist. Dass man mitkriegt, wie die Leute auf das Filmteam reagieren. Dass es eine Situation ist, die sie mitgestalten, dass es nicht eine Situation ist, die den Protagonisten übergestülpt wird, sondern dass sie sich auch aus Situationen befreien können. Und diese Momente der Interaktion zeigt der Film immer wieder.
Claus Philipp: Wie kam es, dass der Film in seiner Endform trotz der langen Drehzeit derart kompakt wirkt?
Nikolaus Geyrhalter: Mich hat das auch überrascht, es liegt wohl an meiner Art Filme zu machen, der ich mich schon sehr verschrieben habe. Wo ich auch nicht sehr flexibel bin, würde ich sagen. Gewisse Grundsätze, wie ich Orte und vor allem auch Personen und Begegnungen abbilden will, die habe ich ja schon länger als diese zehn Jahre. Darum wirkt das jetzt wohl so kontinuierlich, und ich bin selber auch ein bisschen erstaunt darüber. Ich habe mir nicht für diesen Film speziell eine Bildsprache überlegt, ich wollte nur meine Standards, die ich immer habe, auch hier genauso anwenden.
Wolfgang Widerhofer: Was wichtig war am Ende des Tages, ist, dass der Film in eine positive, kraftvolle Richtung geht. Man schaut sich diesen Film an, man erlebt Veränderung und Vergänglichkeit, man erlebt mitunter auch Tragik, aber - und jetzt kommt das große Aber - all diese Protagonisten finden eben einen sehr persönlichen Weg, mit all den Veränderungen und diesen speziellen Situationen, in die sie geraten sind, umzugehen. Beim Schneiden habe ich öfter diesen Schlager gehört, "Über sieben Brücken musst du gehen", in der Version von Karat, und da gibt es den Text: "Über sieben Brücken musst du gehen, sieben dunkle Jahre überstehen. Sieben Mal wirst du die Asche sein, aber einmal auch der helle Schein..." Es war wie eine innere Handlungsanleitung, auch im Schnitt aus den ganzen Krisen raus zu kommen, und gleichzeitig die Auseinandersetzung mit Rückschlägen aufrecht und offen zu halten, die man im Leben hat.
Claus Philipp: Was würden Sie mit dem Begriff "Lebenslauf" verbinden?
Nikolaus Geyrhalter: Das Leben läuft, darauf hat man keinen Einfluss. Man kann zum Arbeitsamt gehen, man kann nicht zum Arbeitsamt gehen: Zehn Jahre vergehen, egal ob man sie gestaltet oder ob man sie gestalten lässt. Am Schluss ist man zehn Jahre älter. Wir auch. Im eigenen Älterwerden denke ich manchmal: Man wird versöhnlicher mit dem Leben, mit dem eigenen und auch mit dem Leben anderer und mit Schicksalen. Hätte ich vor zehn Jahren gewusst, was in diesem Film zum Teil an Tragik passieren wird, hätte ich mich vielleicht davor gefürchtet. Inzwischen nehme ich das einfach gelassener, weil ich weiß, dass man sowieso alles nehmen muss. Diese größere Gelassenheit hat sich wohl speziell am Ende auch sehr auf die Dreharbeiten übertragen.
Wolfgang Widerhofer: Ja, eine Anti-Dramatik. Dem Ruhigen und dem Normalen vertrauen. Dauer hat ja eine spezielle Bedeutung für eigentlich alle Geyrhalter Filme – und das auch unter einem Aspekt, der mir in der Arbeit an ihnen immer stärker bewusst wird: Alle Geyrhalter-Filme behandeln die Frage: Wie ist die Zeit nach etwas? Wie ist die Zeit nach der Katastrophe? Wie ist die Zeit nach dem Zusperren dieser Fabrik? Was ist das Danach? Es bedarf wohl dieses langen Blicks, um viele Schichten, die sich in diesem Danach ergeben, freizulegen. Wie werden Leute mit Veränderungen fertig? Das ist ein Grundthema, das sich durch die ganze Arbeit mit Niki zieht.
Nikolaus Geyrhalter: Es ist lustig, in meinem Leben schau ich eigentlich immer nach vorne. Aber es stimmt wohl: Als wir in Bosnien „Das Jahr nach Dayton“ gedreht haben, oder „Pripyat“, rund um Tschernobyl - mein Interesse wächst eigentlich immer ab dem Zeitpunkt, wo ein Thema aus der täglichen Berichterstattung draußen ist, vergessen ist. Ich bewege mich wohl gerne an vergessenen Orten.
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